Leseprobe
Mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Lübbe
Tour des Lebens
Kapitel 1 Davor und danach
Ich möchte sterben, 100 Jahre alt, mit der amerikanischen Flagge auf dem
Rücken und dem Stern von Texas auf dem Sturzhelm, wenn ich gerade auf
dem Rennrad mit 100 Sachen einen Alpenpaß hinuntergerauscht bin. Ich
möchte über die allerletzte Ziellinie rollen, während meine zehn Kinder
und meine tapfere Frau Beifall klatschen, und dann möchte ich mich in
eines dieser berühmten französischen Sonnenblumenfelder legen und
würdevoll mein Leben aushauchen – das totale Gegenteil von dem bitteren
frühen Ende, das scheinbar für mich vorgesehen war.
Langsam dahinzusiechen ist nichts für mich. Ich mache nichts langsam,
nicht mal atmen. Bei mir muß alles schnell gehen: schnell essen, schnell
schlafen. Es macht mich verrückt, mit meiner Frau Auto zu fahren, wenn
sie am Steuer sitzt. Sie bremst bei jeder gelben Ampel, während ich
genervt auf dem Beifahrersitz rumrutsche.
»Nun fahr schon, du schleichst rum wie ´ne lahme Tussi«, sage ich zu ihr.
»Lance«, gibt sie zurück, »heirate ´nen Mann.«
Mein ganzes Leben lang bin ich mit meinem Rennrad herumgerast, auf
kleinen Sträßchen in Austin in Texas bis hin zu den Champs-Elyséees, und
ich habe immer gedacht, wenn ich früh sterben sollte, dann deshalb,
weil mich irgendein Bauer mit seinem Geländewagen kopfüber in den
Straßengraben befördert hat. Gut möglich. Radfahrer befinden sich im
Dauerkrieg mit diesen Typen in den riesigen Lastwagen. Ich kann schon
gar nicht mehr zählen, wie oft und in wie vielen Ländern ich schon
angefahren worden bin. Ich habe gelernt, mir selbst die Fäden zu ziehen.
Man braucht dazu bloß einen Nagelknipser und einen starken Magen.
Wenn Sie wüßten, wie mein Körper unter dem Renntrikot aussieht, wäre
Ihnen sofort klar, wovon ich rede. Ich habe marmorierte Narben an beiden
Armen und verfärbte Stellen von oben bis unten an den Beinen, die ich
mir übrigens glattrasiere. Vielleicht ist das der Grund, warum die
LKW-Fahrer immer versuchen, mich über den Haufen zu fahren. Sie sehen
meine gepflegten Waden und sagen sich, heute wird nicht gebremst. Aber
ein Radrennfahrer muß sich rasieren, weil man unbehaarte Haut besser
saubermachen und verbinden kann, wenn man über den Schotter gesegelt
ist.
Eine Minute zuvor ist man noch die Straße entlanggeradelt, und im
nächsten Moment liegt man mit der Schnauze im Dreck. Röhrend fegt ein
Schwall heißer Auspuffgase über einen hinweg, man schmeckt den beißenden
Dieselqualm und kann nur noch den entschwindenden Rücklichtern die
Faust hinterher schütteln.
Mit dem Krebs war es nicht anders. Er war wie ein LKW, der mich von der
Straße geschmissen hat, und ich trage noch die Narben, die das beweisen.
Auf meiner Brust, knapp über dem Herzen, habe ich eine runzlige Narbe,
wo der Venenkatheter gesessen hat. Von meiner Leiste bis zum rechten
Oberschenkel hoch zieht sich die Operationsnarbe, wo sie mir den Hoden
rausgeschnitten haben. Aber die Glanzstücke sind zwei tiefe Halbmonde
auf meinem Schädel, als hätte mich zweimal ein Pferd getreten. Das sind
die Andenken an meine Gehirnoperation.
Als ich 25 war, bekam ich Hodenkrebs, und daran wäre ich fast gestorben.
Ich hatte eine Überlebenschance von nicht mal 40 Prozent, und, ehrlich
gesagt, ein paar von meinen Ärzten haben das auch nur aus reiner
Freundlichkeit gesagt. Ich weiß schon, der Tod ist nicht gerade ein
Thema für Small talk. Krebs auch nicht, oder Narben am Schädel, oder
das, was unterhalb der Gürtellinie liegt. Aber ich habe auch nicht vor,
mich nett und unverbindlich mit Ihnen zu unterhalten. Ich will, daß Sie
die Wahrheit erfahren. Ich bin sicher, es ist Ihnen lieber, davon zu
hören, wie das mit dem Krebs wirklich war, wieso ich danach trotzdem die
Tour de France gewinnen konnte, dieses Straßenrennen von über 3800
Kilometern, von dem man sagt, es sei der härteste Sportwettkampf der
Welt. Sie wollen etwas erfahren über Glauben und nicht weiter
Begründbares, über dieses ganz unwahrscheinliche Comeback, wodurch ich
heute neben so überragenden Fahrern wie Greg LeMond und Miguel Induréain
stehen kann. Vielleicht wollen Sie auch etwas über den oft wie ein
Märchen erzählten Aufstieg in den Alpen und den Sieg über die Straßen
der Pyrenäen lesen. Sie wollen wissen, wie ich mich dabei gefühlt habe.
Manches von dieser Geschichte ist nicht ganz leicht zu erzählen, und
manches hört sich nicht besonders schön an. Ich bitte Sie gleich hier am
Anfang, alles, was Sie über Helden und Wunder denken, zu vergessen. Das
hier ist kein Märchenbuch. Wir sind nicht in Disneyland oder Hollywood.
Ein Beispiel: Ich habe gelesen, daß ich die Hügel und Berge in
Frankreich hinaufgeflogen wäre. Aber einen Berg fliegt man nicht rauf.
Man quält sich langsam und unter Schmerzen den Anstieg hoch, und wenn
man sich ganz besonders anstrengt, kommt man vielleicht vor den anderen
da oben an.
Mit dem Krebs ist das genauso. Auch starke Menschen bekommen Krebs, tun
alles, was man tun muß, um ihn zu besiegen, und sterben trotzdem. Das
ist eine Grundwahrheit, die man einsehen muß. Wenn man das getan hat,
wird einem alles andere ziemlich egal. Es kommt einem nicht mehr so
wichtig vor.
Ich weiß nicht, warum ich noch lebe. Ich kann nur raten. Ich bin
ziemlich zäh, und in meinem Beruf habe ich gelernt, wie man mit
Problemen und Hindernissen fertig wird. Ich mag anstrengendes Training
und anstrengende Rennen. Das hat mir geholfen. Es war eine gute
Voraussetzung, aber entscheidend war es nicht. Ich kann mir nicht
helfen, aber ich glaube, daß ich überlebt habe, war doch eher ein
glücklicher Zufall.
Als ich 16 war, wurde ich zu einer Testreihe an der Cooper Clinic in
Dallas eingeladen. Das ist ein sehr angesehenes Forschungszentrum, wo
das Aerobic erfunden wurde. Ein Arzt testete meinen VO2max-Faktor, der
zeigt, wieviel Sauerstoff man maximal aufnehmen und nutzen kann. Er
sagte, das wären die höchsten Werte, die er je gesehen hätte. Außerdem
produzierte ich weniger Milchsäure als die meisten Menschen. Der Körper
erzeugt Milchsäure, wenn er arbeitet und dabei müde wird. Milchsäure
macht das Stechen in der Lunge und den Muskelkater in den Beinen.
Ich kann mich also sehr stark anstrengen und werde dabei nicht so
schnell müde wie die meisten anderen Leute. Vielleicht habe ich auch
deshalb überlebt. Ich hatte einfach Glück. Ich bin mit einem
außergewöhnlichen Talent zum Atmen auf die Welt gekommen. Aber wie dem
auch sei, ich habe eine lange Zeit in einem Nebel aus Krankheit und
Verzweiflung verbracht.
Meine Krankheit hat mich vom hohen Roß runtergeholt und mir ist eine
Menge klargeworden. Der Krebs hat mich gezwungen, unbarmherzig über mein
Leben nachzudenken. Es gibt da ein paar Sachen, auf die ich nicht
besonders stolz bin: Manchmal war ich gemein, habe mich um meine
Pflichten rumgedrückt, manchmal war ich auch schwach und habe irgendwas
nicht getan, was mir heute leid tut. Ich habe mich gefragt: »Was für ein
Mensch willst du eigentlich sein – wenn du überhaupt am Leben bleibst?«
So langsam wurde mir klar, daß mir zum erwachsenen Mann noch einiges
fehlte.
In Wahrheit war der Krebs das Beste, was mir passieren konnte. Ich weiß
nicht, warum ich diese Krankheit bekommen habe. Aber sie hat bei mir
Wunder gewirkt, und ich will gar nicht, daß es nicht so gekommen wäre.
Warum sollte ich mir auch nur einen Tag lang etwas aus meinem Leben
wegdenken, und dann noch das wichtigste und prägendste überhaupt?
Aber ich will Ihnen nichts vormachen. Es gibt zwei Lance Armstrongs: den
vor dem Krebs und den danach. Die Lieblingsfrage der Leute ist: »Wie
hat der Krebs Sie verändert?« Die wirkliche Frage ist aber, inwiefern er
mich nicht verändert hat. Am 2. Oktober 1996 ging ich aus meinem Haus,
und als ich wiederkam, war ich ein anderer. Ich war ein
Weltklassesportler gewesen, mit einer hübschen Villa am Flußufer, einem
Porsche in der Garage und einem selbstverdienten Vermögen auf der Bank.
Ich gehörte zur Weltspitze der Radrennfahrer, und meine Karriere bewegte
sich steil nach oben. Als ich zurückkam, war ich ein total anderer
Mensch. Irgendwie ist mein altes Ich tatsächlich gestorben, und mir
wurde ein zweites Leben geschenkt. Sogar mein Körper sieht anders aus,
denn bei der Chemotherapie verschwanden alle Muskeln, die ich mir
antrainiert hatte, und als ich gesund wurde, kamen sie nicht genauso
wieder.
Menschen sterben. Manchmal macht mich diese Wahrheit so fertig, daß ich
es nicht über mich bringen kann, sie aus“zusprechen. Wozu also
weitermachen, fragt man sich dann. Warum lassen wir es nicht einfach gut
sein und legen uns dorthin, wo wir gerade sind? Aber es gibt auch noch
eine andere Wahrheit: Die Menschen leben, und sie leben auf die
bemerkenswerteste Art und Weise. Als ich krank war, habe ich an einem
einzigen Tag mehr Schönheit und Triumph erlebt, als je in einem ganzen
Radrennen – aber es waren menschliche Augenblicke, keine geheimnisvollen
Wunder. Ich habe einen Typen kennengelernt, der in einem ausgeleierten
Trainingsanzug rumlief und sich als brillanter Chirurg entpuppte. Ich
habe mich mit einer unermüdlichen, überlasteten Krankenschwester namens
LaTrice angefreundet, die sich auf eine Art um mich gekümmert hat, die
es nur gibt, wenn man mit jemandem tief und mitfühlend verbunden ist.
Ich habe Kinder gesehen, ohne Wimpern und ohne Augenbrauen, denen die
Chemo die Haare weggebrannt hatte und die mit dem unerschrockenen Herzen
eines Miguel Induréain kämpften.
Bis heute habe ich es noch nicht richtig begriffen.
Alles, was ich tun kann, ist, Ihnen die ganze Geschichte der Reihe nach zu erzählen.
Ich hätte natürlich wissen müssen, daß mit mir etwas nicht stimmte. Aber
bei Sportlern, und bei Radfahrern ganz besonders, gehört das Verdrängen
zum Geschäft. Man verdrängt alle Beschwerden und Schmerzen, weil man
das tun muß, sonst würde man das Rennen nicht durchstehen. Dieser Sport
ist eine Art Selbstmißbrauch. Man sitzt den ganzen Tag im Sattel, sechs
oder sieben Stunden hintereinander, bei jedem Wetter, über Stock und
Stein, durch Matsch, Wind und Regen, sogar bei Hagel, und läßt sich vom
Schmerz nicht unterkriegen.
Alles tut einem weh, der Rücken, die Füße, die Hände, der Nacken, der Hintern und natürlich die Beine.
Nein, es ist mir damals, 1996, nicht aufgefallen, daß ich mich nicht
besonders gut fühlte. Als in diesem Winter mein rechter Hoden leicht
anschwoll, sagte ich mir, damit mußt du eben leben. Ich nahm an, ich
hätte mir die Schwellung irgendwie beim Radfahren zugezogen, oder es sei
eine Reaktion auf irgendwelche männlichen Körpervorgänge. Ich fuhr gute
Rennen, hatte eigentlich bessere Bewertungen als je zuvor, und zum
Aufhören gab es keinen Grund.
Radrennfahren ist ein Sport, bei dem sich Reife auszahlt. Er verlangt
ein körperliches Stehvermögen, das man jahrelang aufbauen muß, und ein
Verständnis für Strategie, das man erst mit viel Erfahrung bekommt. Im
Jahr 1996 hatte ich allerdings das Gefühl, daß ich mich allmählich
meiner Bestform näherte. Im Frühjahr gewann ich das »Flèche – Walonne«,
eine mörde“rische Tour durch die Ardennen, die bis dahin noch kein
Amerikaner geschafft hatte. Beim klassischen Rennen »Lüttich –
Bastogne – Lüttich« über 267 Kilometer an einem einzigen schweren Tag
kam ich als Zweiter ins Ziel. Und bei der »Tour DuPont«, 1960 Kilometer
in zwölf Tagen durch die Berge von Carolina, wurde ich Sieger. Außerdem
konnte ich noch fünf zweite Plätze einfahren, und ich war zum erstenmal
in meiner Karriere kurz davor, in die internationale Spitze der fünf
Weltbesten einzubrechen.
Als ich die »Tour DuPont« gewann, fiel den Radsportfans allerdings etwas
Ungewöhnliches auf. Wenn ich sonst über den Zielstrich fuhr, pumpte ich
normalerweise die Fäuste wie Kolben auf und ab, aber an diesem Tag war
ich für Siegeskundgebungen auf dem Rad viel zu erschöpft. Ich hatte
blutunterlaufene Augen und einen hochroten Kopf.
Nach meinem ausgezeichneten Frühjahr hätte ich eigentlich zuversichtlich
und energiegeladen sein müssen. Statt dessen war ich einfach nur müde.
Meine Brustwarzen taten mir weh. Wenn ich besser informiert gewesen
wäre, hätte ich gewußt, daß das ein Krankheitszeichen war. Es bedeutete,
daß ich einen erhöhten Spiegel des Hormons HCG (Humanes
Choriongonadotropin) hatte, das normalerweise von Frauen in der
Schwangerschaft produziert wird. Bei Männern kommt es nur in winzigen
Mengen vor, es sei denn, ihre Hoden spielen verrückt.
Ich dachte, ich wäre einfach nur erschöpft. »Reiß dich zusammen«, sagte
ich zu mir, »du kannst dir keinen Durchhänger leisten.« Die beiden
wichtigsten Rennen der Saison lagen noch vor mir: Die Tour de France und
die Sommerolympiade in Atlanta. Nur dafür hatte ich trainiert und war
ich Rennen ge“fahren.
Bei der Tour de France mußte ich schon nach fünf Tagen aufgeben. Nachdem
ich durch ein Gewitter gefahren war, bekam ich Halsschmerzen und eine
Bronchitis. Ich hustete und hatte Schmerzen im Lendenbereich. Ich konnte
einfach nicht wieder aufs Rad steigen. »Ich hab´ keine Luft mehr
bekommen«, sagte ich zu den Journalisten. Rückblickend waren das
schicksalhafte Worte.
In Atlanta ließ mich mein Körper wieder im Stich. Beim Zeitfahren wurde
ich Sechster, und beim Straßenfahren kam ich auf den 12. Platz.
Insgesamt ganz gut, aber ich hatte einfach mehr erwartet und war
enttäuscht.
Als ich wieder in Austin war, schob ich alles auf eine Grippe. Ich
schlief viel, alles tat mir weh und mir war irgendwie schwindelig. Ich
nahm das alles auf die leichte Schulter und dachte: »Na ja, die Saison
war eben ziemlich anstrengend.«
Am 18. September feierte ich meinen fünfundzwanzigsten Geburtstag. Ein
paar Tage später lieh ich mir ein Gerät, um Margarita-Bowle zu machen,
feierte in meinem Haus mit Freunden eine große Party, und anschließend
ging es noch zu einem Konzert von Jimmy Buffet. Mitten in dieser Nacht
sagte ich zu meiner Mutter Linda, die aus Plano herübergekommen war:
»Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt.« Ich liebte mein Leben.
Ich traf mich mit Lisa Sheils, einer hübschen Studentin an der
University of Texas. Ich hatte gerade einen neuen Zweijahresvertrag über
1,25 Millionen Dollar pro Jahr mit dem angesehenen französischen
Rennteam Cofidis unterschrieben. Ich hatte ein wunderschönes neues Haus,
an dem ich monatelang herumgebaut hatte, bis innen und außen alles bis
ins kleinste genau so geworden war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es
war eine Villa im mediterranen Stil am Ufer des Lake Austin, mit hohen
Glasfenstern, durch die man auf den Swimmingpool und eine Art
italienischen Innenhof hinaussah, der sich bis zum Bootsanleger
hinunterzog, wo mein eigener Jetski und mein Motorboot auf mich
warteten.
Der Abend wurde nur durch eines getrübt: Mitten im Konzert bekam ich
Kopfschmerzen. Es fing an mit einem dumpfen Pochen. Ich schluckte ein
paar Aspirin, die halfen aber nicht. Die Kopfschmerzen wurden sogar
schlimmer.
Ich versuchte es mit Ibuprofen. Ich hatte inzwischen vier Tabletten
davon intus. Aber die Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Ich sagte
mir, das sei ein Fall von entschieden zu vielen Margaritas und schwor
mir, nie, nie wieder dieses Zeug zu trinken. Mein Freund, Agent und
Anwalt Bill Stapleton schnorrte bei seiner Frau Laura ein paar
Migränetabletten, die sie in der Handtasche hatte. Ich nahm drei. Auch
das half nicht.
Inzwischen war es eine Art von Kopfschmerzen, die man sonst nur im Kino
zu sehen bekommt: Die Knie werden weich, man hält sich den Kopf mit
beiden Händen und man meint, er platzt.
Schließlich gab ich auf und ging nach Hause. Ich knipste alle Lichter
aus, legte mich auf die Couch und bewegte mich nicht. Der Schmerz ließ
zwar nicht nach, aber im Verein mit meinem Tequila-Kater hatte er mich
so ausgelaugt, daß ich schließlich doch einschlief.
Als ich am nächsten Morgen wach wurde, war es vorbei. In der Küche beim
Kaffeekochen kam mir alles ein bißchen verschwommen vor. Die Dinge
schienen keine festen Konturen zu haben. »Ich werde wohl langsam alt«,
dachte ich. »Vielleicht brauche ich eine Brille.«
Ich hatte für alles eine Entschuldigung.
Ein paar Tage später telefonierte ich im Wohnzimmer mit meinem Freund
Bill Stapleton. Plötzlich bekam ich einen hef“tigen Hustenanfall. Ich
mußte würgen und spürte einen metallischen und fauligen Geschmack im
Mund. »Bleib mal dran«, sagte ich, »hier stimmt was nicht.« Ich rannte
ins Bad und hustete ins Waschbecken.
Es war mit Blut gesprenkelt. Ich starrte ins Becken. Ich mußte nochmal
husten, und dabei spuckte ich eine rote Lache aus. Ich konnte nicht
glauben, daß diese Menge Blut und schleimiges Zeug aus meinem eigenen
Körper gekommen sein sollte.
Tief beunruhigt ging ich zurück ins Wohnzimmer und nahm den Hörer.
»Bill, ich ruf dich nachher nochmal an«, sagte ich. Sofort, nachdem ich
aufgelegt hatte, wählte ich die Nummer von meinem Nachbarn Dr. Rick
Parker an, einem guten Freund, der in Austin mein Hausarzt ist. Rick
wohnt nur ein Stückchen die Straße hinunter.
»Kannst du mal rüberkommen?« bat ich. »Ich huste Blut.«
Während Rick noch unterwegs war, ging ich wieder ins Bad und betrachtete
die blutige Bescherung im Becken. Plötzlich drehte ich den Hahn auf.
Ich wollte alles wegspülen. Manchmal tue ich Dinge, ohne vernünftig
darüber nachzudenken. Ich wollte nicht, daß Rick das sah. Es war mir
unangenehm. Ich wollte, daß es weg war.
Als Rick kam, untersuchte er meine Nase und meinen Mund. Nachdem er mir
in den Hals geguckt hatte, wollte er das Blut sehen. Ich zeigte ihm das
bißchen, das noch im Becken hing. »Oh Gott«, dachte ich, »ich kann ihm
doch nicht sagen, wieviel das gewesen ist, das ist einfach zu ekelig.«
Der verbliebene Rest sah nicht besonders beeindruckend aus.
Rick kannte meine Klagen über Stirnhöhlenbeschwerden und Allergien. In
Austin gibt es viel Jakobskraut und Pollenflug, und wegen der strengen
Dopingvorschriften im Radsport kann ich es mir nicht leisten,
Medikamente dagegen zu nehmen. Ich muß es über mich ergehen lassen.
»Die Blutung könnte aus deinen Stirnhöhlen gekommen sein«, meinte Rick. »Du hast ja da einen Bruch.«
»Wunderbar«, sagte ich. »Dann ist es also keine große Sache.«
Ich war sehr erleichtert, ich stürzte mich auf die erste Vermutung, daß
es nichts Ernstes wäre, und hakte es ab. Rick knipste seine kleine
Stablampe aus, und auf dem Weg zur Tür lud er mich in der kommenden
Woche zum Abendessen ein.
Ein paar Abende später fuhr ich mit meinem Motorroller den Hügel runter
zu den Parkers. Ich habe etwas übrig für motorisiertes Spielzeug, und
der Roller war eins meiner Lieblingsstücke. Aber an diesem Abend tat mir
mein Hoden so weh, daß ich kaum auf dem Ding sitzen konnte.
Auch bei den Parkers hatte ich große Mühe, einigermaßen bequem am
Eßtisch zu sitzen. Ich mußte genau die richtige Sitzposition finden, und
dann durfte ich mich nicht mehr bewegen. Es tat einfach höllisch weh.
Fast hätte ich Rick gesagt, was mit mir los war, aber ich hatte zu große
Hemmungen. Über so was unterhält man sich wohl kaum beim Abendessen,
und ich hatte ihn ja schon mit dem Blut belästigt. »Er denkt sonst
bestimmt, ich wäre ein Jammerlappen«, dachte ich bei mir. »Halt lieber
den Mund.«
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war einer meiner Hoden
furchterregend angeschwollen, er war fast so groß wie eine Apfelsine.
Ich zog mich an, nahm mein Rad von seinem Halter in der Garage herunter
und machte mich auf meine übliche Trainingsrunde. Aber ich merkte, daß
ich nicht auf dem Sattel sitzen konnte. Ich mußte die ganze Runde in den
Pedalen stehen. Als ich am frühen Nachmittag nach Hause kam, rief ich
zögernd wieder bei den Parkers an.
»Rick, mit einem meiner Hoden stimmt was nicht«, sagte ich. »Es ist sehr
angeschwollen, und ich mußte die ganze Strecke im Stehen fahren.«
Rick war sehr ernst. »Das mußt du sofort untersuchen lassen«, meinte er.
Er wollte mir unbedingt noch am selben Nachmittag einen Termin bei einem
Spezialisten machen. Wir legten auf, und er rief Dr. Jim Reeves an,
einen prominenten Urologen aus der Stadt. Als Rick ihm meine Beschwerden
geschildert hatte, sagte Dr. Reeves, ich solle sofort zu ihm kommen. Er
würde mir einen Termin freihalten. Rick rief mich an und sagte, Dr.
Reeves vermute zwar bei mir nur eine Torsion, eine Drehung des Hodens,
aber ich sollte hinkommen und es untersuchen lassen. Wenn ich mich nicht
darum kümmern würde, könnte ich den Hoden verlieren.
Ich duschte und zog mich an, nahm die Autoschlüssel und setzte mich in
meinen Porsche, und merkwürdigerweise weiß ich noch genau, was ich
anhatte: Khakihosen und ein grünes Hemd drüber. Die Praxis von Dr.
Reeves lag in der Innenstadt von Austin in der Nähe der University of
Texas in einem unauffälligen Klinikgebäude aus braunem Klinker.
Dr. Reeves war ein älterer Herr mit einer tiefen, angenehmen Stimme, die
tief aus einem Brunnenschacht zu kommen schien. In seiner
ärztlich-beflissenen Art wirkte bei ihm alles wie Routine – obwohl er
von dem, was er bei der Untersuchung sah, ernsthaft alarmiert war.
Mein Hoden war auf das Dreifache der normalen Größe geschwollen, hart
und äußerst berührungsempfindlich. Dr. Reeves machte ein paar Notizen
und Messungen. »Das sieht mir etwas verdächtig aus«, meinte er. »Zur
Sicherheit schicke ich Sie rüber zur Ultraschalluntersuchung, das ist
gleich gegenüber.«
Ich zog mich wieder an und ging zu meinem Auto. Das Institut lag auf der
anderen Seite einer breiten Straße in einem anderen klinikartigen
braunen Klinkerbau. Ich beschloß, mit dem Auto hinüberzufahren. Das
Gebäude war ein kleiner Bienenstock aus lauter Büros und Räumen, die mit
komplizierten medizinischen Geräten vollgestopft waren. Wieder legte
ich mich auf einen Untersuchungstisch.
Eine MTA, eine medizinisch-technische Assistentin, kam herein und
untersuchte mich mit dem stabförmigen Instrument des Ultraschallgeräts,
das ein Bild in einen Monitor einspeist. Ich hatte geglaubt, ich wäre in
ein paar Minuten wieder draußen. Nur eine Routineuntersuchung zur
Beruhigung des Arztes.
Eine Stunde später lag ich immer noch auf dem Tisch.
Die MTA wollte offenbar jeden Millimeter von mir untersuchen. Ich lag
stumm da und bemühte mich, gelassen zu bleiben. Warum dauerte das so
lange? Hatte sie was gefunden?
Dann legte sie den Stab weg und ging, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Zimmer. »Moment mal«, rief ich. »Hey!«
»Verdammt, ich denke, das war nur eine Formsache«, dachte ich. Nach
einiger Zeit kam die MTA mit einem Mann zurück, den ich dort schon
vorher gesehen hatte. Es war der Chefradiologe. Er nahm den Stab und
fing nun seinerseits an, meine Geschlechtsteile zu untersuchen. Eine
weitere Viertelstunde verging. »Warum dauert das so lange?«
»Gut, Sie können sich jetzt anziehen und wieder rauskommen«, sagte er.
Ich streifte hastig meine Sachen über und ging zu ihm raus auf den Flur.
»Wir müssen noch Ihren Oberkörper röntgen«, meinte er.
Ich blieb wie angewurzelt stehen. »Wieso denn das?« wollte ich wissen.
»Dr. Reeves hat darum gebeten«, war die Antwort.
Wozu wollen die sich meine Brust ansehen? Da tat mir doch nichts weh.
Wieder ging es in ein Untersuchungszimmer, und ich zog mich aus. Eine
andere medizinisch-technische Assistentin besorgte das Röntgen.
Ich wurde langsam wütend und wußte noch nicht mal, warum. Wieder zog ich
mich an und stelzte zum Institutsbüro. Am Ende des Flurs sah ich den
Chefradiologen stehen.
»Hey«, rief ich und knöpfte ihn mir vor.
»Was passiert hier eigentlich?« fragte ich. Mein Ton war gereizt. »Das ist doch nicht normal!«
»Nun ja, ich möchte Dr. Reeves nicht vorgreifen«, sagte er, »aber er
scheint bei Ihnen möglicherweise einen krebsbezogenen Befund abklären zu
wollen.«
Ich stand wie angewurzelt da.
»Ach, du Scheiße«, sagte ich.
»Sie müssen die Röntgenaufnahmen gleich zu Dr. Reeves mitnehmen. Er wartet auf Sie in seiner Praxis«, sagte der Arzt.
In meiner Magengrube spürte ich einen kleinen Eisblock, der langsam
größer wurde. Ich nahm mein Handy und wählte die Nummer von Rick.
»Rick, hier stimmt was nicht, aber keiner will damit rausrücken«, sagte ich.
»Lance, ich kann nicht viel dazu sagen«, antwortete er, »aber ich möchte
dabeisein, wenn du gleich zu Dr. Reeves gehst. Warte da auf mich.«
»Okay«, sagte ich. Während die Aufnahmen entwickelt wurden, wartete ich
im Röntgeninstitut. Endlich kam der Radiologe, gab mir einen großen
braunen Umschlag und sagte, Dr. Reeves würde mich in seiner Praxis
erwarten. Ich starrte den Umschlag an. Ich begriff: Das da drin ist
meine Brust.
»Es sieht nicht gut aus«, dachte ich und stieg in mein Auto. Ich schaute
auf den braunen Umschlag mit den Röntgenaufnahmen von meiner Brust. Bis
zur Praxis von Dr. Reeves waren es nur knapp 200 Meter, aber es kam mir
weiter vor. Wie zwei Kilometer. Oder zwanzig.
Ich fuhr die kurze Strecke und parkte den Wagen. Die normalen
Öffnungszeiten waren längst vorbei. »Wenn Dr. Reeves auf mich gewartet
hat, diese ganze lange Zeit, dann muß es dafür einen guten Grund geben«,
dachte ich. »Das kann nur heißen, gleich kommt der dicke Hammer.«
Als ich zur Praxis von Dr. Reeves ging, merkte ich, daß das Gebäude leer
war. Alle waren schon gegangen. Draußen war es inzwischen dunkel
geworden.
Rick kam, er sah ziemlich ernst aus. Ich hockte mich auf einen Stuhl,
Dr. Reeves machte den Umschlag auf und zog die Röntgenaufnahmen von
meiner Brust heraus. Eine Röntgenaufnahme sieht aus wie das Negativ zu
einem normalen Schwarzweiß-Foto. Alles, was nicht normal ist, zeichnet
sich in weißen Abstufungen darauf ab. Ein schwarzes Bild ist in
Wirklichkeit gut, weil es bedeutet, daß die Organe sauber sind. Schwarz
ist gut. Weiß ist schlecht.
Dr. Reeves klemmte die Aufnahmen in den Leuchtrahmen an der Wand.
In meiner Brust sah es aus wie bei einem Schneesturm.
»Also, die Lage ist ernst«, erklärte Dr. Reeves. »Sieht aus wie Hodenkrebs mit ausgedehnten Metastasen in der Lunge.«
»Ich habe Krebs«, durchfuhr es mich.
Ich fragte: »Sind Sie sicher?«
»Ziemlich sicher«, antwortete er.
»Ich bin erst 25. Warum sollte ausgerechnet ich Krebs haben?« dachte ich.
»Sollte ich nicht noch eine zweite Meinung einholen?« schlug ich vor.
»Natürlich«, sagte Dr. Reeves. »Dazu haben Sie jedes Recht. Aber Sie
sollten wissen, daß ich mir meiner Diagnose sicher bin. Ich habe Sie für
morgen früh um sieben zur Operation angemeldet, um den Hoden zu
entfernen.«
»Ich habe Krebs, und er steckt schon in meiner Lunge«, schoß es mir durch den Kopf.
Dr. Reeves erläuterte seine Diagnose: Hodenkrebs sei eine seltene
Erkrankung. In den Vereinigten Staaten träten jährlich nur etwa 7000
Fälle auf. Meistens wären junge Männer im Alter zwischen 18 und 25
Jahren betroffen. Dank der Fortschritte auf dem Gebiet der Chemotherapie
gelte er als eine sehr gut therapierbare Krebsform, aber der
entscheidende Faktor wäre ein frühes Eingreifen. Niemand könne wissen,
wie schnell er voranschreite. Dr. Reeves war sicher, daß ich Krebs
hatte. Die Frage war, wie weit er sich schon ausgebreitet hatte. Er
empfahl mir, zu Dr. Dudley Youman zu gehen, einem renommierten Onkologen
aus der Stadt, der auch Lady Bird Johnson behandelt hatte. Rasches
Handeln sei angesagt, jeder Tag zähle. Damit beendete Dr. Reeves seine
Ausführungen.
Ich sagte gar nichts.
»Ich laß Sie beide mal für ein paar Minuten allein«, sagte Dr. Reeves.
Als ich mit Rick allein war, sank mir der Kopf auf den Schreibtisch.
»Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte ich.
Aber ich mußte zugeben, ich war krank. Die Kopfschmerzen, das
Blutspucken, der gereizte Hals, auf die Couch fallen und endlos schlafen
– ich fühlte mich krank, und das schon seit einiger Zeit.
»Lance, hör gut zu, bei der Behandlung von Krebs sind enorme
Fortschritte gemacht worden«, sagte Rick. »Krebs ist heilbar. Wir werden
alle Hebel in Bewegung setzen. Wir schaffen das.«
»Okay«, sagte ich. »Okay.«
Rick rief Dr. Reeves wieder herein. »Was soll ich tun?« fragte ich. »Los
geht´s. Wir machen den Krebs fertig. Egal, was zu tun ist, wir machen
das!«
Ich wollte sofort geheilt werden. Auf der Stelle. Ich hätte mich noch in
dieser Nacht operieren lassen. Ich hätte mich selbst ins Krankenhaus
eingeliefert und eigenhändig die Strahlenkanone eingeschaltet, wenn es
was geholfen hätte. Aber Dr. Reeves erklärte mir geduldig das weitere
Vorgehen, das mir am nächsten Morgen bevorstand: In der Früh mußte ich
im Krankenhaus antreten zu einer ganzen Latte von Tests und
Blutuntersuchungen, damit der Onkologe abschätzen konnte, wie weit der
Krebs war, und dann würde der Hoden operativ entfernt.
Ich stand auf und ging. Ich hatte jede Menge Anrufe zu erledigen, einen
davon bei meiner Mutter. Ich mußte ihr irgendwie beibringen, daß ihr
Sohn – ihr einziges Kind – Krebs hatte.
Ich stieg in mein Auto und machte mich auf den kurvigen, baumbestandenen
Straßen auf den Heimweg zu meinem Haus hoch über dem See. Zum erstenmal
in meinem Leben fuhr ich langsam. Ich stand unter Schock. Ich dachte:
»Oh Mann, ich werde nie wieder Rennen fahren können« – nicht etwa: »Oh
Mann, ich werde sterben«, oder: »Oh Mann, ich werde nie eine Familie
haben.« Irgendwo tief in mir ging alles durcheinander. Aber der erste
Gedanke war: »Oh Mann, ich werde nie wieder Rennen fahren können.« Ich
griff zum Autotelefon und wählte die Nummer von Bill Stapleton.
»Bill, es gibt böse Neuigkeiten«, sagte ich.
»Was ist los?« fragte er geistesabwesend.
»Ich bin krank«, sagte ich. »Mit meiner Karriere ist´s aus.«
»Was?« rief er.
»Es ist alles vorbei«, sagte ich. »Ich bin krank, ich werde nie wieder Rennen fahren können, und ich werde alles verlieren.«
Ich legte auf.
Im ersten Gang schlich ich durch die Straßen. Ich konnte einfach kein
Gas geben. Ich holperte dahin und bekam Zweifel an allem. Als ein
Fünfundzwanzigjähriger, den nichts umwerfen konnte, hatte ich mein Haus
verlassen. Nicht kaputt zu machen. Der Krebs würde alles über den Haufen
werfen. Er würde nicht nur meine Karriere beenden, er würde überhaupt
alles, worauf mein Selbstwertgefühl beruhte, zerstören. Ich hatte mit
nichts angefangen. Meine Mutter war eine Sekretärin in Plano in Texas.
Aber auf meinem Rennrad war ich jemand geworden. Wenn andere Jungen nach
der Schule im Country Club im Pool herumplanschten, saß ich Kilometer
um Kilometer auf dem Rad, denn das war meine Chance. Jede Trophäe und
jeder Dollar, die ich je bekommen hatte, waren mit Fässern von Schweiß
erkauft. Was sollte ich jetzt machen? Was würde aus mir werden, wenn ich
nicht mehr Lance Armstrong, der Weltklasseradfahrer, der schnellste und
härteste Bursche überhaupt war?
Ein kranker Mensch.
Ich fuhr die Auffahrt zu meinem Haus rauf. Drinnen klingelte das
Telefon. Ich ging rein und warf die Schlüssel auf den Tisch. Das Telefon
klingelte immer noch. Ich ging dran. Es war mein Freund Scott
McEachern. Die Firma Nike hatte ihn als ihren Repräsentanten für die
Zusammenarbeit mit mir abgestellt.
»Hey, Lance, was ist los?« fragte Scott.
»Eine Menge«, knurrte ich. »Nicht zu knapp.«
»Was soll das heißen?« erkundigte er sich.
»Ich, äh...«, ich brach ab.
Bis jetzt hatte ich das Wort noch nicht laut ausgesprochen.
»Was ist denn?« fragte Scott.
»Ich hab´ Krebs«, sagte ich.
Ich fing an zu weinen.
Und dann, in diesem Augenblick, dämmerte es mir: Ich würde vielleicht mein Leben verlieren. Nicht nur meinen Sport.
Ich kann sterben!
...
Kapitel 8 Zurück ins Leben
Als ich krank war, habe ich mir geschworen, nie mehr zu fluchen, nie
wieder Bier zu trinken und nie mehr auszuflippen. Ich war dabei, der
beste und anständigste Bursche zu werden, den man sich vorstellen kann.
Aber das Leben geht weiter. Die Dinge ändern sich, und man vergißt seine
guten Vorsätze. Und dann wird eben doch wieder geflucht und Bier
getrunken.
Wie konnte ich so schnell wie möglich wieder normal leben? Das war mein
Hauptproblem nach dem Krebs. Es gibt den Spruch, daß man jeden Tag so
leben soll, als wäre es der letzte. Aber das half mir auch nicht weiter.
Es ist bestimmt gut gemeint, aber in der Praxis funktioniert es nicht.
Wenn ich nur für den Augenblick leben würde, wäre ich bloß noch eine
liebenswürdige Niete mit einem ewigen Dreitagebart am Kinn. Ehrlich, ich
hab´s versucht.
Die Leute denken, das Comeback von Lance Armstrong wäre ein großer
Triumph gewesen, aber am Anfang war es die reine Katastrophe. Wenn man
ein ganzes Jahr lang Angst vor dem Tod gehabt hat, meint man, für den
Rest des Lebens Anspruch auf Dauerurlaub zu haben. Das geht natürlich
nicht. Man muß wieder zu seiner Familie zurück, zu seinen Freunden und
seinem Beruf. Aber ein Teil von mir wollte mein altes “Leben nicht
zurückhaben.
Im Januar zogen wir mit dem U.S. Postal-Troß nach Europa. Kik kündigte
ihren Job, gab ihren Hund weg, vermietete ihr Haus und packte alles
zusammen, was sie besaß. In Cap Ferrat, auf halbem Weg zwischen Nizza
und Monaco, mieteten wir uns eine Wohnung. Dann ließ ich sie eine Weile
allein und ging mit dem Team auf die Straße. Radrennen sind nichts für
Ehefrauen oder Freundinnen. Das war das gleiche wie im Büro; es war mein
Job, und man nimmt seine Frau ja auch nicht mit in den Konferenzraum.
Kristin war auf sich allein angewiesen in einem fremden Land, ohne
Freunde oder Familie, und sie konnte die Sprache nicht. Aber sie
reagierte typisch: Sie meldete sich sofort zu einem
Französisch-Intensivkurs an, richtete die Wohnung ein und stürzte sich
in die ganze Sache wie in ein großes Abenteuer, ohne das kleinste
bißchen Angst. Nicht ein einziges Mal jammerte sie herum. Ich war stolz
auf sie.
Ich selber war nicht so gut drauf. Auf der Straße lief es nicht so
recht, weil ich mich erst wieder an die Strapazen von Straßenrennen
durch Europa gewöhnen mußte. Ich hatte vergessen, wie das war. Das
letzte Mal, als ich auf dem Kontinent war, hatte ich mit Kik Urlaub
gemacht. Wir hatten in den besten Hotels übernachtet und wie Touristen
gelebt. Aber jetzt war wieder das Gegenprogramm angesagt: widerliches
Essen, unbequeme Betten in schäbigen, kleinen Hotels und ständiges
Herumreisen. Ich mochte das überhaupt nicht.
Tief innerlich war ich nicht bereit. Damals verstand ich noch nicht
besonders viel vom Überleben, sonst wäre mir klar gewesen, daß ich bei
meinem Comeback-Versuch notwendigerweise psychische Probleme bekommen
mußte. Wenn ich einen schlechten Tag hatte, jammerte ich oft: »Ach, ich
hab eben zuviel durchgemacht. Ich hab drei Operationen, drei Monate
Chemo und ein höllisches Jahr hinter mir. Kein Wunder, daß ich schlecht
fahre. Mein Körper ist eben nicht mehr der alte.« Eigentlich hätte ich
sagen sollen: »Was soll´s, ich hatte eben einen schlechten Tag.«
Ich fuhr herum mit unterdrückten Selbstzweifeln und auch einer tief
vergrabenen Wut. Ich bekam nur einen Bruchteil von dem, was ich früher
verdient hatte. »80-Prozent Krebssteuer«, dachte ich sarkastisch. Und
neue Verträge waren immer noch nicht in Sicht. Ich hatte mir das alles
so vorgestellt: In dem Moment, wo ich wieder aufs Rad steige und mein
Comeback verkünde, rennt mir ganz Amerika die Tür ein. Als das nicht
passierte, gab ich Bill die Schuld dafür. Ich machte ihn völlig verrückt
mit meinen ständigen Fragen, warum er mir keine Verträge “anbrachte.
Irgendwann kam es zu einem heftigen Streit am Telefon – ich in Europa,
er in Texas. Wieder mal beklagte ich mich lang und breit darüber, daß
sich an der Vertragsfront nichts tat.
»Hör mal, ich sag dir was«, sagte Bill, »ich such dir einen neuen
Manager. Ich mach das nicht länger mit. Ich weiß, du glaubst, ich hätte
es nötig. Da täuscht du dich aber. Ich kün“dige.«
Ich schwieg. Dann sagte ich: »Also, das möchte ich aber nicht.«
Von da an ließ ich Bill in Ruhe, aber ich war immer noch stinksauer, daß
niemand mich wollte. Kein europäisches Team, und auch nicht das
vereinte Amerika.
Mein erstes Profirennen nach 18 Monaten war die »Ruta del Sol«, ein
Fünftagerennen durch Spanien. Ich kam auf den 14. Platz, und das war
eine Sensation. Trotzdem war ich deprimiert und unzufrieden. Ich war
daran gewöhnt, vorn zu liegen und nicht auf dem 14. Platz zu enden.
Außerdem haßte ich den ganzen Rummel um mich bei diesem ersten Rennen.
Ich fühlte mich gestreßt durch den Leistungsdruck und ärgerte mich über
den Medienzirkus. Am liebsten wäre ich unangekündigt aufgetaucht, hätte
ohne Kommentar mein Rennen gefahren und mich allein durch meine
Selbstzweifel gekämpft. Ich wollte einfach nur im Peloton mitfahren und
meine Beine wieder spüren.
Zwei Wochen später startete ich im »Paris – Nizza«. Es ist eins der
schwierigsten Etappenrennen überhaupt, abgesehen von der Tour de France.
Eine achttägige Strapaze, die berüchtigt ist wegen der winterlich
rauhen Wetterbedingungen. Vor dem eigentlichen Rennen fand der
sogenannte Prolog statt, ein Einzelzeitfahren. Das ist eine Art
Ausleseverfahren, nach dem bestimmt wird, welcher Fahrer an der Spitze
des Feldes fährt. Ich machte den 19. Platz, nicht schlecht für einen,
der gerade vom Krebs geheilt war. Aber ich sah das nicht so. Ich war
daran gewöhnt zu gewinnen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war der Himmel grau, es wehte ein
scharfer Wind und die Temperatur lag um Null. Als ich die Augen
aufgemacht hatte, wußte ich sofort, daß ich bei diesem Wetter nicht
fahren wollte. Mürrisch verdrückte ich mein Frühstück. Dann traf ich
mich mit dem Team, um die Strategie für diesen Tag zu besprechen.
Einstimmig beschlossen wir, daß wir auf George Hincapie, unseren
Kapitän, warten und ihn wieder nach vorn ziehen wollten, wenn er aus
irgendeinem Grund zurückfallen sollte.
Dann setzte ich mich im Startbereich in einen Wagen und versuchte, warm
zu bleiben. Ich wäre am liebsten sonstwo gewesen, bloß nicht dort.
Solche Gedanken machten es natürlich auch nicht besser. Draußen in der
Kälte wurde meine Laune noch schlechter. Mißmutig streifte ich mir
Legwarmers über und versuchte, einen winzigen Fleck meiner Haut trocken
zu halten.
Wir brachen zu einer langen, ebenen Etappe auf. Der Regen peitschte von
der Seite, und durch den scharfen Wind kam es einem noch kälter vor. Es
gibt nichts, was einen mehr runterzieht als ein lange, flache Straße im
Regen. An einer Steigung bleibt der Körper wenigstens ein bißchen warm,
weil man sich anstrengen muß, aber auf einer flachen Straße dringen
einem Kälte und Nässe bis in die Knochen. Da helfen keine Überschuhe,
und keine Jacke ist gut genug. Früher hätte ich mich darum gerissen,
Bedingungen auszuhalten, die jeden anderen geschafft hätten. Aber nicht
an diesem Tag.
Hincapie hatte eine Reifenpanne.
Wir bremsten. Das Hauptfeld schoß an uns vorbei. Als wir wieder in Fahrt
kamen, lagen wir 20 Minuten hinter der Spitze. Und bei diesem Wind
würden wir uns eine Stunde brutal abstrampeln müssen, um wieder
aufzuholen. Wir fuhren weiter, die Köpfe gegen den Regen gestemmt.
Der Seitenwind schnitt durch meine Kleidung, und ich konnte das Rad fast
nicht mehr halten, als ich am Straßenrand entlangschlingerte. Plötzlich
legte ich meine Hände oben auf den Lenker, richtete mich im Sattel auf
und ließ das Rad über den Rand rollen.
Ich fuhr auf den Seitenstreifen. Ich gab auf. Ich verließ das Rennen.
Ich zog mir die Nummer vom Trikot und dachte: »So habe ich mir mein
Leben nicht vorgestellt, frierend, naß bis auf die Knochen und in der
Gosse.«
Frankie Andreu war direkt hinter mir. Er erzählte mir später, wie das
ausgesehen hatte, als ich mich aufrichtete und auf die Seite fuhr. Er
hatte bei sich gedacht: »Der wird eine ganze Weile kein Rennen mehr
fahren – wenn überhaupt noch mal. Er ist fertig.«
Als die anderen nach dem Ende der Etappe ins Hotel zurückkamen, packte
ich bereits meine Sachen. »Ich geb auf«, sagte ich zu Frankie. »Keine
Rennen mehr. Ich fahr nach Hause.« Es war mir egal, ob meine Kameraden
mich verstanden oder nicht. Ich verabschiedete mich, hängte mir meine
Tasche über die Schulter und verschwand.
Die Entscheidung aufzuhören hatte nichts damit zu tun, wie ich mich
körperlich fühlte. Ich war stark, aber ich wollte nicht mehr mitmachen.
Ich wußte einfach nicht, ob ich mich für den Rest meines Lebens auf dem
Rad durch Kälte und Schmerzen strampeln wollte.
Kik war gerade nach der Sprachschule etwas einkaufen, als ich sie auf
ihrem Handy anrief. »Ich komm heute abend nach Hause«, sagte ich. Sie
verstand mich nicht, weil der Empfang nicht besonders gut war und
fragte: »Was? Was ist los?«
»Das erzähl ich dir später«, sagte ich.
»Bist du verletzt?« Sie dachte, ich hätte einen Unfall gehabt.
»Nein, ich bin nicht verletzt. Bis heute abend.«
Ein paar Stunden später holte Kik mich am Flughafen ab. Wir sprachen
nicht viel, bis wir im Auto saßen und auf dem Weg nach Hause waren.
Schließlich sagte ich: »Weißt du, es macht mir einfach keinen Spaß
mehr.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht, wieviel Zeit ich noch habe, aber die möchte ich nicht
auf dem Rad verbringen. Ich hasse es. Ich hasse die Strapazen. Ich hasse
es, von dir getrennt zu sein. Ich hasse das ganze Leben hier. Ich will
nicht in Europa bleiben. Bei der ›Ruta del Sol‹ hab´ ich es mir
bewiesen, ich hab´ gezeigt, daß ich zurückkommen und es schaffen kann.
Jetzt brauch´ ich mir selber nichts mehr beweisen, und den anderen
Krebskranken auch nicht. Das war´s.«
Ich machte mich darauf gefaßt, daß sie mir Vorwürfe machen würde: »Und
was ist mit meinem Kurs, und was mit meinem Job? Warum bin ich dann
überhaupt mitgegangen?« Aber das sagte Kik nicht. Ruhig antwortete sie:
»Also gut.«
Im Flugzeug nach Cap Ferrat hatte ich eine Harley-Davidson-Reklame
gefunden, die genau das ausdrückte, was ich fühlte: »Wenn ich mein Leben
noch einmal leben könnte, würde ich...« Und dann wurden verschiedene
Beispiele genannt wie »mehr Sonnenuntergänge betrachten«. Ich hatte es
aus der Zeitschrift rausgerissen, und als ich nun versuchte, Kik meine
Gefühle zu erklären, gab ich ihr die Anzeige und sagte: »Genau das ist
es, was mit dem Radfahren nicht stimmt. So soll mein Leben nicht
aussehen.«
»Laß uns drüber schlafen und ein paar Tage warten, bevor wir uns entscheiden«, antwortete sie.
Am nächsten Tag ging Kik wieder in ihre Sprachschule, und ich saß allein
und untätig zu Hause. Ich wollte mein Rad nicht einmal sehen. In der
Sprachschule war es streng verboten, im Unterricht mit dem Handy zu
telefonieren. Trotzdem rief ich sie dreimal an. »Ich halt es nicht aus,
hier rumzusitzen und nichts zu tun«, sagte ich. »Ich hab mit dem
Reisebüro gesprochen. Wir reisen ab.«
Kik sagte: »Ich habe Unterricht.«
»Ich hole dich ab. Die Schule ist doch nur Zeitverschwendung.«
Kik ging aus dem Klassenzimmer, setzte sich draußen auf eine Bank und
weinte. Seit Wochen kämpfte sie nun mit dieser Sprache. Sie hatte uns
ein Zuhause geschaffen, gelernt, mit der fremden Währung umzugehen und
herausgefunden, wo sie am besten einkaufen konnte. Sie hatte gelernt wie
man auf der »autoroute« fährt und die französischen Mautgebühren
bezahlt. Und nun war ihre ganze Mühe umsonst gewesen.
Als ich sie abholen kam, weinte sie immer noch. Beunruhigt fragte ich: »Warum weinst du denn?«
»Weil wir abreisen müssen«, sagte sie.
»Wie meinst du das? Du hast hier keine Freunde. Du kannst kein
Französisch. Du hast hier keinen Job. Warum willst du hierbleiben?«
»Weil ich das nun mal angefangen habe und es nun auch zu Ende bringen
möchte. Aber wenn du meinst, wir müssen gehen, dann gehen wir eben.«
Der Abend war der Anfang eines Packmarathons. Kik machte sich mit der
gleichen Energie daran wie ans Auspacken. Innerhalb von 24 Stunden
hatten wir mehr geschafft als die meisten Menschen in zwei Wochen. Wir
riefen Kevin Livingston an und übergaben ihm unseren ganzen Hausrat:
Handtücher, Silber, Lampen, Schüsseln, Töpfe, Teller, Staubsauger. Ich
sagte zu ihm: »Wir kommen nicht mehr wieder. Ich will diesen Krempel
nicht behalten.« Kevin versuchte erst gar nicht, mich um“zustimmen – er
wußte es besser. Er war im Gegenteil sehr schweigsam. Ich konnte an
seinem Gesicht sehen, daß er meine Entscheidung für falsch hielt, aber
er sagte kein Wort. Er hatte mein Comeback immer skeptisch gesehen und
gesagt: »Paß auf deinen Körper auf. Take it easy.« Er hatte meine ganze
Leidensgeschichte mit mir durchlebt und sich immer Sorgen um meine
Gesundheit gemacht. Als ich ihm die Kartons in die Arme drückte, sah er
so traurig aus, daß ich schon dachte, er würde gleich in Tränen
ausbrechen. »Hier«, sagte ich und drückte ihm einen Karton mit
Küchenkram in die Arme, »du kannst alles haben.«
Es war ein Alptraum. Meine einzige gute Erinnerung an diese Zeit ist die
an Kik, und wie sie in dem ganzen Chaos, das ich anstiftete, die Ruhe
behielt. Ich hätte es ihr nicht übelgenommen, wenn sie zusammengebrochen
wäre. Sie hatte ihre Arbeitsstelle gekündigt, war nach Frankreich
gezogen, hatte alles aufgegeben, und quasi über Nacht wollte ich nach
Austin zurück und meine Karriere an den Nagel hängen. Aber sie hielt zu
mir. Sie war verständnisvoll, unendlich geduldig und unterstützte mich
in allem.
Zu Hause in Amerika wunderten sich alle, wo ich abgeblieben war. Bei
Carmichael zu Hause klingelte morgens um acht das Telefon. Ein
französischer Journalist fragte ihn: »Wo ist Armstrong?« Chris
antwortete: »Er ist beim Paris – Nizza-Rennen.« Der Journalist sagte in
gebrochenem Englisch: »Nein, er ist ausgestiegen.« Chris legte auf. Eine
Minute später klingelte es wieder – noch ein französischer Journalist.
Chris rief Bill Stapleton an, aber der hatte nichts von mir gehört. Auch
Och wußte nichts. Chris versuchte es über meine Handynummer und in
meiner Wohnung in Frankreich. Keine Antwort. Er hinterließ mir
Nachrichten, auf die ich nicht reagierte, und das war ungewöhnlich.
Irgendwann rief ich Chris vom Flughafen aus an und sagte: »Wir fliegen
nach Hause. Ich mach´ das nicht mehr mit. Ich brauch´ die schäbigen
Hotels, dieses Wetter und das miese Essen nicht. Was soll mir das
bringen?«
Chris sagte: »Lance, tu, was du willst. Aber nicht Hals über Kopf.«
Ruhig sprach er weiter und versuchte, ein bißchen Zeit herauszuschinden.
»Kein Wort zur Presse, keine Verlautbarungen, kein Wort, daß du
aufhören willst«, warnte er mich.
Ihr Kommentar
Kommentar von Hänsch | 23.06.2011
Das liest sich super. Das Buch muss ich komplett lesen.